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American Splendor

USA 2003. R,B: Shari Springer Berman, Robert Pulcini. K: Terry Stacey. S: Robert Pulcini. M: Mark Suozzo. P: Home Box Office. D: Paul Giamatti, Hope Davis, Harvey Pekar, Joyce Brabner u.a.
101 Min. Tiberius Film ab 28.10.04

Wer ist Harvey Pekar?

Von Daniel Bickermann Selten war eine Pre-Credit-Sequenz aussagekräftiger: Da stehen an Halloween die kleinwüchsigen Comic-Superhelden aufgereiht auf der Veranda eines Hauses und wollen Süßigkeiten. Superman, Batman, Green Lantern - und Harvey Pekar. Und als die Frau den kleinen, trotzigen Jungen mit den abgerissenen Klamotten fragt, wen er wohl darstellen soll, da stiert er sie nur verständnislos an und sagt: »Hören Sie, Lady, ich stelle niemanden dar, ich bin nur ein Junge aus der Nachbarschaft.« Sie scheint nicht zu verstehen. »Ach vergessen Sie's«, flucht er und zieht schimpfend von dannen. Schon wieder an der Borniertheit seiner Mitmenschen gescheitert.

Harvey Pekar ist ein aufbrausender Nörgler, Pessimist und Menschenfeind - und man muß ihn einfach lieben. Das ist der große Erfolg, der dem Regisseursehepaar Pulcini und Berman in dieser herrlich verschrobenen Fabel gelingt: dem Publikum einen klassischen Unsympathen als liebenswerten Helden des Alltags ans Herz wachsen zu lassen. Dabei helfen ihnen zwei seltene Glücksfälle: Zum einen ein wundervoller Jazzscore (vom Stillmann-Veteranen Mark Suozzo), der sich zusammen mit dem Protagonisten von hektischer Sprunghaftigkeit und Ruhelosigkeit zu kunstvoller Zärtlichkeit entwickelt. Zum anderen das brillante Casting des auf skurrile Nebenrollen spezialisierten Paul Giamatti, dessen verbrauchtes Gesicht und faltiger Körper wie geschaffen sind für einen Film, der sich ausgerechnet der schonungslosen Darstellung eines lebenslangen Aktensortierers verschreibt. Giamatti findet hier die Rolle seines Lebens - und er weiß es. Der kleine Mann spielt virtuos auf, ohne jemals zu überdrehen oder die Balance zwischen Realismus und Dramatik zu verlieren. Von Beginn an fühlt man mit ihm, lacht mit ihm über die hinterhältigen Absurditäten des Alltags, verliebt sich mit ihm in die grotesk bebrillte und auch sonst einfach zauberhafte Hope Davis und kichert liebevoll über seinen Stimmverlust, der ihn den halben Film über unartikuliert krächzen läßt - ein Schicksal, das in dieser Form bestimmt auch noch keinem Hollywood-Helden widerfahren ist.

Was aus dieser angenehm unprätentiösen Indie-Fabel zudem ein wirklich erstaunliches mediales Erlebnis macht, ist das ständige Brechen der fiktionalen Ebene. Harvey Pekar gibt es nämlich wirklich, und American Splendor ist die Comicreihe, die er, mit sich selbst in der Hauptrolle, geschrieben hat. Glücklicherweise rutschen die gefilmten Szenen deswegen noch lange nicht in verwackelten Dokumentarstil oder gar in eine pathetische Doku-Drama-Ästhetik ab, sondern bleiben in der typischen kantigen, klugen Sperrigkeit eines amerikanischen Independentfilms. Nur daß wir nach einem simplen Schnitt mitten in der Handlung eben plötzlich den realen Pekar beim Sprechen des Voice Overs beobachten, was dann auch schon mal zu einem kleinen Interview ausartet.

Und während man sich noch verwundert die Augen reibt, ist Harvey natürlich bereits voll damit beschäftigt, herumzumaulen, daß der Schauspieler überhaupt nicht aussehe wie er und nicht einmal wie eine der vielen Comicfiguren, die verschiedene Zeichner nach seinem Bild angefertigt haben und die übrigens auch allesamt schlecht getroffen seien. Diese gezeichneten Figuren mischen sich auch immer wieder in die Erzählung ein, zudem besucht der geschauspielerte Pekar ein Theaterstück nach seinen Comics, wo dann wieder ein ganz anderer den Harvey Pekar spielt (der ihm übrigens auch nicht ähnlich sieht), und dann stehen irgendwann Schauspieler und reale Figur zusammen am Cateringbuffet des Filmsets und plaudern ein wenig. Die Lehre, die man aus dieser auswechselbaren körperlichen Präsenz des Protagonisten ziehen kann, ist einfach: In gewisser Weise sind wir alle Harvey Pekar. 1970-01-01 01:00

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