Die Leiche im Keller
Von Susanne Bohlmann
Was ist Hierankl? Hierankl ist ein Ort nahe der bayerischen Alpen. Es ist ein Hof mitten im Nirgendwo, ein Haus (in dem eine Familie lebt). Hierankl ist eine Heimat. Und darum dreht sich auch alles in Hans Steinbichlers Spielfilmdebüt. Die 23jährige Lene kehrt nach fünf Jahren zurück an den Ort ihrer Kindheit. Sie sucht eine Familie und findet die Bruchstücke einer schmerzhaften Vergangenheit. Ein deutscher Heimatfilm, der mit den Klischees von glücklichen Menschen, perfekten Familien und immer schönem Wetter gründlich aufräumt.
Von Beginn an wird dem Zuschauer, durch die eindringliche Atmosphäre und das entrückte Spiel von Johanna Wokalek, eines ganz klar: Hier stimmt etwas nicht. Dieses Gefühl der Ruhe vor dem Sturm rückt immer mehr in den Vordergrund. Nichts scheint normal in Hierankl und an seinen Bewohnern. Jede Figur, jeder Ort, sogar jeder Baum ist überzogen mit einem Schleier aus tiefgründiger, geheimnisvoller und fremdwirkender Undurchdringlichkeit. Und obwohl der Sturm spät kommt und nicht mit solch fürchterlicher Intensität wie erwartet, wird der Zuschauer nicht enttäuscht. Die Geschichte wartet mit immer neuen Überraschungen auf, die Licht in die dunklen Verwicklungen der Figuren bringen. Doch nicht die neue Erkenntnis ist hier bedeutend, sondern das daraus resultierende Verhalten der Figuren. Steinbichler rückt die einzelnen Charaktere nacheinander in den Spot und läßt sie erfahren, erleben und aushalten.
Unweigerlich drängt sich der Vergleich mit Thomas Vinterbergs
Festen auf. Doch im Gegensatz dazu ist
Hierankl ein stilles, fast poetisches Werk. Das liegt vor allem an der hervorragenden Kameraarbeit von Bella Halben. Die Mischung aus Dogmastil, ruhigen Totalen und expliziten Detailaufnahmen zwingen den Zuschauer nah an die Geschichte und geben ihm doch immer wieder Abstand zum Geschehen. Wie Zuckerbrot und Peitsche setzt Bella Halben die Bilder ein, um das Publikum in die gewünschte Richtung zu leiten.
So ist es ein Leichtes, sich in Lene hineinzuversetzen. Mit ihr das lang vergessene Elternhaus zu betreten, die emotionsgeladenen Gerüche aus Kindertagen in sich aufzunehmen und das Gefühl entstehen zu lassen: Ich bin zu Hause. Doch dann werden unweigerlich Erinnerungen wach, zu denen man wieder Abstand gewinnen möchte, die sonnendurchfluteten Bilder verlieren ihren Glanz, und ins Bewußtsein dringt die Erkenntnis: Hier soll die Leiche aus dem Keller. Und so geschieht es. Durch die leicht überzogen wirkenden Charaktere sowie den scheinbar unrealistischen Handlungsverlauf fällt es nicht sonderlich schwer sich einzureden, man selbst habe mit solch abstrusen Familienstreitereien nichts zu tun. Doch die brillante und absolut authentische Darstellung von u.a. Josef Bierbichler und Barbara Sukowa machen
Hierankl zu einem Familiendrama, dem man sich schwer entziehen kann.
Und am Ende sitzt man da, glotzt auf den Abspann und wartet, bis das Licht angeht.
1970-01-01 01:00