Alltag im Zwischenreich
Von Jutta Klocke
Langsam könnte man meinen, es seien die mongolische Landschaft und ihre Bewohner selbst, die sich den gängigen Zuordnungen zu realen und fiktionalen Bereichen widersetzen. Ähnlich mythenträchtig wie die traditionelle indianische Lebenswelt, ist deren östliches Pendant in letzter Zeit zum filmisch neu entdeckten Zwischenreich von Überlieferung und Wirklichkeit avanciert. Vor zwei Jahren wurde ein Kamel zum Protagonisten einer dramatischen Handlung, deren Verlauf kein Drehbuch vorschreiben konnte, sondern allein der Lauf der Dinge. Byambasuren Davaa und Luigi Falorni gelang damals das Paradoxon der Dokumentation einer Legende. Ning Hao wiederum bettet in seinem Film
Mongolian Ping Pong die rührende Erzählung um einen geheimnisvollen Tischtennisball in das alltägliche Leben einer »echten« Nomadenfamilie ein. Dieselbe Mischform aus Dokumentation und Spielfilm findet sich nun in Davaas zweitem Kinofilm wieder.
Die erdachte Handlung um eine Nomadentochter, die einen verlassenen Hund findet und ihn gegen den Willen des Vaters behält, fügt sich in die – ohnehin überwiegenden – dokumentarischen Elemente so organisch ein, daß sie kaum als fiktionales Moment auszumachen ist. Den einzigen narrativen Fremdkörper bildet die titelgebende Fabel. Und es hätte sie – anders als in Davaas Vorgänger – auch nicht gebraucht, denn die mythische Energie, die sie hätte erzeugen sollen, bezieht der Film nicht aus ihr, sondern aus dem Zusammenwirken von Daniel Schönauers Kamera und der eindrucksvollen Naturkulisse. In dem allgegenwärtigen Grün und der hügeligen Weite scheint das Spiel mit Farb- und Lichtverhältnissen nicht inszeniert, sondern Teil jener verwunschenen Realität zu sein, welche die Mongolei als Land zwischen Vergangenheit und Gegenwart repräsentiert. Für die einst geschenkte
Geschichte vom weinenden Kamel gibt Davaa dieser Realität mit
Die Höhle des gelben Hundes eine andere zurück. Aus mongolischer Sicht dürfte das ein angemessener Tauschwert sein.
1970-01-01 01:00