Von Sascha Seiler
Der Engel ist zurück. Doch anders als noch in
Wild At Heart,
Eraserhead oder
Twin Peaks – Fire Walk With Me erscheint er in
Mulholland Drive gleich zu Beginn vor dem Hintergrund vergnügt tanzender Paare.
Dies ist nicht der Engel der Erlösung aus früheren Werken David Lynchs, es ist ein Engel des Todes, im Gewand der blonden Unschuld. Sein frühes Erscheinen weist auf die Nähe des bevorstehenden Unheils hin, bevor er vor einem psychedelischen Hintergrund entschwebt – als Prolog sozusagen – und erst dann befindet sich der Zuschauer wieder auf dem ihm bekannten
Lost Highway. Man wird diesen kurzen Prolog, der zum Seltsamsten gehört, was der Regisseur jemals auf die Leinwand gebracht hat, schnell als Anomalie, als filmischen Fehlgriff abtun. Vergessen wird man ihn im Laufe des Films jedoch nie.
Vielleicht ist der seltsame junge Mann zu Anfang des Films der Schlüssel zum Verständnis des großen Rätsels von
Mulholland Drive, ein Film, der wieder einmal dem Prinzip der Möbius-Schleife folgt. Er wird erst gegen Ende in einer kurzen Einstellung wiederkehren, jedoch scheint er als einziger zu wissen, wo der Schlüssel zum Geheimnis liegt: Er kann den »Mann hinter der Mauer« sehen, der die Büchse der Pandora öffnen und somit die Katastrophe einleiten wird.
Es ist wichtig zu wissen, daß dieser »Mann hinter der Mauer« – so wie ähnliche Gestalten aus früheren Lynch-Werken wie der »Mann von einem andern Ort« oder der »Mystery Man« – nur deswegen existiert, weil im Universum von David Lynch ein niemals endender, unerbittlicher Kampf zwischen Schwarz und Weiß tobt, der das Gleichgewicht der Welt bedingt. Am Besten wurde dieses Konzept anhand des Fernschachs zwischen Agent Cooper und Windom Earle in den letzten Folgen von
Twin Peaks dargestellt. Und natürlich anhand der ewigen Dualität des weiblichen Wesens, der Blondine und ihrer schwarzhaarigen Doppelgängerin, in fast jedem anderen seiner Filme.
Auch in
Mulholland Drive weist Lynch darauf hin, daß es zwar schwarz und weiß, aber keine verläßliche Zuordnung von Gut und Böse gibt. Vielleicht wird das Gleichgewicht ja nicht durch einen immerwährenden Konflikt zwischen zwei Mächten hergestellt, sondern durch die Schizophrenie einer einzigen Macht. Es darf bei David Lynch kein faßbares Böses geben, deswegen kann auch Fred Madison in
Lost Highway nicht der Mörder seiner Frau Renee sein (obwohl er es natürlich ist) und deswegen sieht Agent Cooper in der Schlußszene von
Twin Peaks nicht sich selbst, sondern das Böse in Gestalt von Bob im Spiegel (obwohl er eigentlich nur in seine Seele blickt). Die Reinheit eines Wesens oder eines Ortes ist gleichzeitig auch Grundbedingung für das Böse, sie macht es erst möglich und greifbar, und das Gleichgewicht der Mächte bedingt die Schizophrenie.
Mulholland Drive orientiert sich stark an
Lost Highway wie auch an
Twin Peaks und bietet auf den ersten Blick nichts Neues. Doch erstmals gelingt es Lynch, nahezu alle logischen Fallen zu umgehen, in die er in früheren Filmen noch geschlittert war, und somit eine Geschichte zu erzählen, die bis kurz vor Schluß keinen Sinn zu ergeben will und nach der Auflösung am Ende plötzlich bis in die kleinste Nuance logisch konstruiert erscheint. Vielleicht liegt es daran, daß man sich im Lynch-Kosmos immer besser zurechtfindet, da jede Figur auf andere Figuren in früheren Lynch-Filmen verweist. Der mysteriöse Cowboy ist eine weitere Inkarnation des Mystery Man, die Frauen, deren Identität austauschbar scheint, erinnern an die Verkörperungen von Unschuld und Trieb in
Blue Velvet.
Bei
Lost Highway kreidete man dem Regisseur seine Selbstreferentialität noch als Ideenlosigkeit an. Nachdem er mit
The Straight Story bewiesen hat, daß er erstens handwerklich solide arbeiten kann und zweitens die Kunst beherrscht, das Publikum auch mal zu Tode zu langweilen, ist
Mulholland Drive ein Universum an Zeichen geworden, deren vollständige Bedeutung sich nur im Kontext jenes Lynch-Kosmos erschließen lässt.
Mulholland Drive ist aber auch David Lynchs Meisterwerk geworden. Sobald er hinter den obligatorischen roten Vorhang blickt, ist der Zuschauer am »anderen Ort« angekommen, der so erschreckend und düster erscheint wie nie zuvor. Nur der tanzende Zwerg ist noch nicht zu sehen.
1970-01-01 01:00