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Requiem

D 2005. R: Hans-Christian Schmid. B: Bernd Lange. K: Bogumil Godfrejow. S: Bernd Schlegel, Hansjörg Weißbrich. P: 23.5. D: Sandra Hüller, Burghart Klaußner, Imogen Kogge, Friederike Adolph u.a.
92 Min. X Verleih ab 2.3.06

Die Gespenster der Vergangenheit

Von Dietrich Brüggemann Der letzte Song auf der bisher letzten Platte der Band Weezer trägt den Titel »Haunt you every day«. Er handelt von einer Liebe, die geendet hat, die vielleicht nie existiert hat, die einen aber gerade deswegen nie mehr loslassen wird, und das Lied hat genau diese Wirkung. Es besteht aus einer banalen, eigentlich ziemlich unoriginellen Akkordfolge, in die sich kein Mensch verliebt, aber es weckt im Hörer große Trauer über eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat.

Was hat das mit Hans-Christian Schmids neuem Film zu tun?
Zunächst einmal gar nichts.

Requiem ist ein hervorragender, gewissenhaft und gut gemachter Film, der erzählt, wie eine Studentin aus dem ländlichen Schwaben in den 70er Jahren an ihrem religiösen Umfeld zerbricht, sich in eine imaginierte Besessenheit hineinsteigert und schließlich einem Exorzismus zustimmt. Ohne besondere dramaturgische Kraftanstrengung nimmt der Film uns mit auf eine Reise in eine Zeit und ein Land, das uns sehr fremd und zugleich furchtbar vertraut erscheint, und dann auf einmal zieht man uns ohne Vorwarnung den Film unter den Füßen weg und läßt uns allein mit ein paar dürren Worten auf der Leinwand, die erzählen, was wir schon wissen: Michaela Klingler beziehungsweise ihr reales Vorbild Anneliese Michel starb im Jahr 1976 nach einer Serie von Exorzismen an Entkräftung.

Das ist die Erzählung des Films. Doch eigentlich erzählt er von etwas ganz anderem. Und der Schlüssel dazu liegt mal wieder in der Musik.

Schon vor sieben Jahren, in 23, irritierte Hans-Christian Schmid, indem er Songs spielte, die für den Film zehn Jahre zu alt waren, die nämlich aus den 70ern stammten. Das könnte man als persönliche Marotte abtun, daß nämlich Schmid, Jahrgang 1965, seine eigene musikalische Sozialisation einfach nicht los wird, und das ist vermutlich auch so, aber es ist zugleich Ausdruck einer Erzählhaltung, die sich durch all seine Filme zieht – sie handeln nur an der Oberfläche von der Jugend und ihrem Ende, in Wahrheit erzählen sie von der Trauer um eine Jugend, die nicht stattgefunden hat. In 23 verliert ein Junge zu früh seinen Vater, den er aber ohnehin gehaßt hat, und verliert sich daraufhin in einer versponnenen Fantasiewelt. In Crazy endet eine imaginierte Liebe, auf die der Held im wahren Leben sowieso nie eine Chance gehabt hätte, und in Lichter sterben Hoffnungen, die von vornherein keine waren. Die Heldin von Requiem darf keine entspannte Jugend haben, all das, was die anderen so ganz normal mitnehmen, bleibt ihr verschlossen, und als sie es doch versucht, wird sie bestraft. Einzig die Musik bleibt als Sinnbild ihrer Sehnsucht, als Symbol für das gelingende, aktive Leben, das immer nur die anderen haben, und so wie die Songs auf der ansonsten musikfreien Tonspur eingesetzt werden, wecken sie große Trauer um eine Geborgenheit, die es nie gegeben hat.

In bisher konzentriertester Form erzählt H.-C. Schmid hier von einem Leben, das zu Ende geht, bevor es richtig anfangen konnte; von einer Jugend, die nicht stattfinden kann, weil das Elternhaus keine Basis, sondern nur einengende Zwangsjacke ist, in der elterliche Erwartungshaltungen sich als Liebe tarnen und eine demonstrativ nach außen getragene Religiosität als Sinnersatz herhalten muß.

Hier spürt man ein ganz persönliches Anliegen, und wenn man einen Blick auf Hans-Christian Schmids Biographie wirft – er wuchs in dem katholischen Wallfahrtsort Altötting auf – so kann man davon ausgehen, daß er mit Requiem seinen bisher privatesten Film gemacht hat.

Und dieses persönliche Anliegen ist es, das Requiem seine Kraft verleiht – jenseits der schwäbischen Provinz der 70er Jahre, jenseits der katholischen Milieuschilderung, die es einem eigentlich leicht machen sollte, sich dagegen abzugrenzen, weckt er im Betrachter Emotionen, die universeller sind und tiefer liegen. Der Film geht weiter. Nachdem er aufgehört hat, wirkt er lange nach, er tut das, was Weezer in unübersetzbare Worte gekleidet haben: »Haunt you every day.«

Noch eine Anmerkung zur verlorenen Vergangenheit: Ziemlich gegen Anfang des Films bekommt die Hauptfigur die Haare geschnitten und sieht auf einmal aus wie Angela Merkel in jung. Die war bekanntlich in den 70ern nicht im ländlichen Schwaben, sondern ganz woanders, auch das ist also eine Vergangenheit, die nie existiert hat, aber hier handelt es sich natürlich nur um einen dummen Zufall, der nichts weiter zu bedeuten hat. 1970-01-01 01:00
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