Das ganze Leben ist ein Quiz
Von Werner Busch
Entgegen anderslautender Meldungen hat Danny Boyle nie einen schlechten Spielfilm gemacht. Auch nach seinem Durchbruch mit
Trainspotting hat er weiterhin ungebrochene Freude am visuellen und erzählerischen Experimentieren bewiesen. Gleichwohl konnten Filme wie
The Beach oder zuletzt
Sunshine weder an der Kasse noch bei der Kritik vollends überzeugen. Nun aber, mit dem in Indien entstandenen
Slumdog Millionär, scheinen plötzlich und unerwartet alle Dämme der Begeisterung zu brechen. Dieser vom Publikum ausgehende Sturm der Entzückung, der mit dem Peoples-Choice-Award beim Festival in Toronto im September 2008 begann, hat sich zu einem Raubzug des Films durch die internationale Welt der Filmpreise ausgeweitet und fand schließlich bei den Academy Awards – nun schon nicht mehr unerwartet – seinen Höhepunkt. Es stellt sich nur noch die Frage, ob
Slumdog Millionär der Ehre würdig ist, es nun ins Bewußtsein der breiten Masse gebracht zu haben, daß Danny Boyle schon immer einer der talentiertesten europäischen Filmkünstler war und ist.
Der junge Mann mit angstvollem Blick heißt Jamal. Er sitzt auf diesem ganz bestimmten Stuhl vor dem Monitor in dem Fernsehstudioset, das auch im weit entfernten Mumbai genauso aussieht wie in Hürth-Kalscheuren. Woher kennt der Junge aus den Slums die Antworten auch auf schwierigste Fragen? Das ist es, was der Film in höchst unterhaltsamen Rückblenden aufdeckt. Die in der frühen Kindheit beginnende Nacherzählung seiner Lebensgeschichte schreitet von Frage zu Frage weiter fort und erreicht schließlich mit der letzten Millionenfrage das Jetzt und damit den Höhepunkt des Films. Daß dieser Höhepunkt mit der Dramaturgie der allseits bekannten Show verwoben ist und zunehmend eine schicksalhafte Liebesgeschichte immer raumgreifender wird, muß nicht zwangsläufig gefallen.
Überhaupt ist es weniger die erzählerische, inhaltliche Ebene, mit der der Film zu faszinieren weiß, sondern vielmehr die absolut einmaligen Bilder, die der Dogma-Kameraveteran Anthony Dodd Mantle für dieses Indien-Epos gefunden hat: Als wolle er die Horizontalität der Welt ad absurdum führen, orientiert sich Mantle statt an der Wasserwaage seines nur rudimentär genutzten Stativs sehr viel lieber an perspektivischen Fluchtlinien oder an den Blickachsen der Figuren. Was dazu führt, daß mehr als ein Drittel seiner Einstellungen (teilweise sogar extrem) gekippt sind. Daß diese Extravaganz aber nicht immer augenscheinlich ist, sich nicht spürbar als Konzept in den Vordergrund drängt und somit störend wird, ist die eigentliche Leistung. Der Mann, der die Videokamera in
Das Fest durch die Schlafzimmer des Landhauses auf die Figuren schleuderte, beweist mit seiner herausragenden Arbeit an diesem Film seine weiterhin ungemein ansprechende Freude am Entdecken neuer Bildwelten.
Slumdog Millionär ist ein echter Boyle-Film geworden: aufregend fotographiert, schnell geschnitten, dazu mit originellem, dominantem Soundtrack; eine spielerisch leicht erzählte, aber komplexe Handlung, in der Humor auf Härte trifft. Gegenüber früheren Filmen treten allerdings die gezeigte Gewalt und auch die Zotigkeit, die Boyles Filmen häufig erst die besondere Würze gab, zugunsten eines etwas »angenehmeren« und wohlgefälligeren Gesamteindrucks zurück. Dennoch bieten die sozialen Umstände in den niedersten Kasten Indiens viel Gelegenheit, Grausamkeiten zu zeigen: So werden Kindern die Augen ausgebrannt, damit sie als blinde Bettler bessere Erfolgsaussichten haben. Menschen werden mit Autobatterien gefoltert, mit Knüppeln zusammengeschlagen und verbrannt; Kinderprostitution, Drogen und Gewalt sind stets gegenwärtig. Dies aber überwiegend in der ersten Hälfte des Films, der die Kindheitsgeschichte des Protagonisten beleuchtet und in der die von der Straße (aus festgetretenem Lehm) weg gecasteten Kinderdarsteller ihren volljährigen Co-Darstellern die Show stehlen.
Trotz seiner milderen Gangart im Vergleich zu anderen Boyle-Filmen und obwohl das letzte Drittel einen etwas zwiespältigen Eindruck hinterläßt, überwiegt ein überaus positiver Gesamteindruck.
Slumdog Millionär ist ein von Grund auf sympathischer und sehr kurzweiliger Film geworden, der sich durch dieselbe inspirierte erzählerische Handschrift und inszenatorischen Einfallsreichtum auszeichnet, die
Trainspotting zu einem der Klassiker des Kinos der 1990er gemacht haben. Wenn die selbsterworbene Popularität des Films dazu beitragen sollte, eine positivere Neubewertung von Boyles Filmschaffen der letzten 13 Jahre zu bewirken, darf ihm trotz seiner kleineren Mankos die Ehre zuteil sein, Boyles bestrittenen Status als einer der herausragendsten Regisseure unserer Tage zu unterstreichen.
2009-03-17 16:00