Sköne Oke
Von Natália Wiedmann
»Caroline« wird sie fälschlicherweise gerufen, ihr Name minimal anagrammiert und doch zum Doppelgänger entstellt – nomen atque omen. Ist es denn nicht, als würde sich in diesen aus Foucaultschen Heterotopien zusammengesetzten Filmräumen eine Typologie von Freuds Unheimlichem entfalten, vor aller Augen, unheimlich? Auf verdrängte infantile Komplexe führt Freud diese besondere Erlebensqualität zurück, zieht Verbindungen zum Heimischen wie auch Heimlichen, »denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist«. – »It was so familiar – that was what made it feel so truly strange«, schreibt Neil Gaiman in der preisgekrönten Buchvorlage zu Coraline. So ist das Haus, das eigene Heim der Ort des Unheimlichen par excellence, nicht zuletzt durch die weibliche Semantisierung des Raums und die Inszenierung, die auf den mütterlichen Körperraum verweist, auf die »Phantasie vom Leben im Mutterleib«, um erneut Freud zu zitieren. Der lebendig anmutende, weiche Gang, den Coraline hinter der niedrigen Tür entdeckt, läßt sich eben nicht nur lesen als weiterer Verweis auf Lewis Carrolls »Alice«, nicht nur als Kriechen durch den Kaninchenbau, er ist gleichsam die Nabelschnur, die sie in die schaurig-fabulöse Hausfrauenwelt der »other mother« führt, in Creeds Terminologie monströser Weiblichkeit eine kastrierende Mutter, die Coraline nach den Augen trachtet.
Nicht nur diesbezüglich kreist die Geschichte um das Sehen, gilt es doch, durch etwas zu schauen, etwas zu durchschauen. Die Entscheidung für das dreidimensionale Darstellungsverfahren erzeugt eine mediale Verdoppelung des Themas, fokussiert das im Mittelpunkt der Handlung stehende Sinnesorgan, und was hier durch die Fenster zum visuellen Cortex dringt, löst ein neuronales Feuerwerk aus. In einer technisch brillanten Verschmelzung digitaler Bildgenerierung und -bearbeitung sowie traditioneller Puppentricktechniken kreierten minutiös arbeitende Künstler eine überwältigende Fülle filigraner Details, wobei der Film seine eigene Kunstfertigkeit und Kostspieligkeit nicht mit Knallchargeneffekten ausstellt, nicht um Bewunderung seiner Plastizität buhlt, sondern diese nutzt, um den Zuschauer – der Protagonistin gleich – tiefer in die illusionären Räume zu ziehen.
Zwischen musizierenden Mäusen auf dem Dachboden, ausgestopften Hundeleichen im Keller und den blühenden Gefahren des Gartens tümmeln sich hier exzentrische Figuren von erstaunlich individuellen Physiognomien und Bewegungsmustern, deren differenzierte Mimik äußerst fein auf die Original-Synchronstimmen abgestimmt ist. Welch visuelle Komik, wenn sich der anatomisch groteske Mr. Bobinsky gelenke-knackend in suizidale Akrobatik stürzt, welch verblüffender Kontrast, wenn die verdörrt wirkende Katze geschmeidig durch die bewegte Schöpfung der anderen Mutter schleicht, diesem zunehmend insektoiden Wesen!
Der Blick weidet sich an reichen Licht- und Farbschattierungen, ertastet die Oberflächen mannigfaltiger Materialien, folgt der Kamera, die kühn und unprätentiös durch das phantastische Setdesign von Coralines Stop-Motion-Welt rauscht, in ihrer scheinbaren Mühelosigkeit die akkurate Millimeterarbeit simultaner Verrückungen vergessen lassend. Mit einer Palette, die von ambrosisch-weichen Harfen- und Celestaklängen über zirzensische Rhythmen bis hin zu schrillem Violinenkreischen reicht, betört der Score und evoziert mit seinen Klangfindungen Gefühle des Grauens und nostalgisch-ephemere Kindheitsbilder, die immer schon unwirklich waren, »a thing no more than a dream on waking, or a memory of something forgotten« (Gaiman).
Manche Erinnerungen sind die eigenen. Wie jene vielleicht, einst beim heimlichen denn verbotenen Stöbern auf dem Dachboden dieses seltsame rote Plastikgebilde mit der Pappscheibe darinnen zu finden (View-Master war darauf zu lesen), hineinzusehen und fast des Atems beraubt zu werden angesichts farbiger, dreidimensionaler Bilder der erstaunlichsten Attraktionen und Disneywunder, leuchtende Aufnahmen, die man mit hungrigen Augen gierig in sich aufsog. Coraline, dieser waghalsige, skurrile, morbidsüße Fiebertraum versetzt zurück zum magischen Gefühl jenes ersten stereoskopischen Bilderstaunens.
2009-08-12 11:45