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Orly

D/F 2009. R,B: Angela Schanelec. K: Reinhold Vorschneider. S: Mathilde Bonnefoy. P: RINGEL Filmproduktion, Nachmittagfilm Angela Schanelec. D: Natacha Régnier, Bruno Todeschini, Maren Eggert, Emile Berling, Josse de Pauw, Mireille Perrier, Jirka Zett, Lina Falkner.
83 Min. Piffl ab 4.11.10

Warten auf Bewegung

Von Natalie Lettenewitsch Flughäfen sind eigentümliche Miniaturuniversen, Zwischenreiche voller Paradoxien. Sie schirmen sich von der Außenwelt ab und wollen zugleich perfekte Anschlußstellen sein, versprechen Aufbruch und Freiheit, sind jedoch streng funktionale und streng reglementierte Orte. Oder auch »Nicht-Orte«, wie es Marc Augé mit seinem immer wieder aufgegriffenen Schlagwort benannt hat: Sinnbilder der Entwurzelung, gesichts- und geschichtslose Stätten der Einsamkeit, die eher dem kapitalistischen Warenkreislauf dienen als menschlicher Verständigung. In romantischeren Imaginationen sind es Orte der Begegnung, an denen Reisende ihren Weg oder gleich ihr ganzes Leben reflektieren und andere daran teilhaben lassen – mit jener besonderen Intimität, die gerade durch Flüchtigkeit entstehen kann.

So oder so ist es verwunderlich, daß das Kino sich diesen Schauplatz nicht noch öfter als Geschichtenreservoir erschlossen hat. Im deutschen Film der vergangenen zehn Jahre haben das vor allem zwei Regisseure auf denkbar unterschiedliche Weise getan, Romuald Karmakar in Manila, seiner gnadenlosen Studie des »häßlichen Deutschen«, und Veit Helmer in Tor zum Himmel, einer eher sozialromantischen Komödie mit Bollywood-Einlagen. Was interessiert nun Angela Schanelec, die stille Beobachterin – die doch sehr genau weiß, was und vor allem wie sie erzählen will? Ganz konsequent ist es nicht die vermeintliche Hektik des Flughafens, sondern der Stillstand, das erzwungene Innehalten vor dem Abflug. Es ist das Warten, das den weitaus größten Teil der an diesem Ort verbrachten Zeit ausmacht. Stets liegt Schanelecs Augenmerk mehr auf den »Pausen« als auf einer nach vorne treibenden Handlung, auf unterschwelligen Stimmungen und scheinbar nebensächlichen Details.

Natürlich interessiert sie sich vor allem auch für den Raum selbst – und dafür, was er mit den Personen macht, die sich darin bewegen. Nach ausführlichen Proben vor Drehbeginn hat sie die Schauspieler mit Mikroports in den lärmenden Flughafenbetrieb geschickt wie auf eine Theaterbühne, umgeben von wirklichen Passagieren. Eine bemerkenswerte Regieleistung, die Zufall und Kontrolle souverän ausbalanciert. Die Figuren sprechen ihre mäandernden Dialoge inmitten der Wartenden, scheinbar sich selbst überlassen, Reinhold Vorschneiders digitale Kamera bleibt mit Teleobjektiv meist auf Abstand – keine kühle Teilnahmslosigkeit, eher respektvolles und neugieriges Interesse. Einer der Protagonisten spiegelt diese Haltung, als er das von seiner Freundin gewünschte Foto eines Kindes nur aus unaufdringlicher Entfernung machen will.

Insgesamt vier Paare treten auf, neben einer einzelnen, einsamen Check-In-Angestellten. Ein Geschäftsmann und eine im kanadischen Exil latent heimwehgeplagte Ehefrau, die sich zufällig begegnen und annähern. Mutter und Sohn, die auf dem Weg zur Beerdigung des Vaters einander intime Details offenbaren. Zwei junge Liebende aus Deutschland, die sich nach einer Rucksacktour durchs romantische Paris offensichtlich voneinander entfernen. Und ein Paar, das wir als solches nicht mehr zu sehen bekommen: Trennung und Sterben schweben im Raum. Die Frau fährt alleine zum Flughafen, mit dem Abschiedsbrief des Mannes in der Tasche, und die wunderbare Maren Eggert verleiht dieser schweigenden Figur einmal mehr gewaltige Präsenz. Auf dem gefühlten Höhepunkt und zugleich im einzigen Moment, in dem Musik den O-Ton überlagert, singt Cat Power »Remember me… We are all only here just for a little while«, wie ein Echo auf das zu Beginn als Plattencover präsente »Love Will Tear Us Apart« von Joy Division.

Was am Ende geschieht, den Eintritt »unvorhergesehener Umstände«, kann man als Einbruch politischer Überwachungsrealität in den geschlossenen Raum verstehen. Der Anlaß ist bei Schanelec nicht entscheidend, es geht ihr um die Reduktion an sich, und die verfehlt nicht ihre Wirkung. Wenn der Lärm sich schließlich legt und der leisen, sonoren Off-Stimme des Briefverfassers weicht, wenn der Raum sich leert und dabei seine Sterilität offenbart, ist er doch noch angefüllt mit Zartheit und Wehmut, mit Schönheit und Traurigkeit. Und mit Hoffnung, denn auch der Weg zurück kann ein Neuanfang sein. 2010-10-29 09:52

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