Kampf um Einsamkeit
Von Alexander Scholz
Ann bleibt draußen. Sie ist ihrem Mann durch den Nieselregen in einen Vorort von Paris gefolgt und beobachtet ihn nun, wie er innig eine junge Frau küßt und ihre Wohnung betritt. Sie hingegen bleibt draußen und nimmt den Betrug zum Anlaß, ehrlich zu sich selbst zu sein. Ohne Aufwallung und doch entschieden zersetzt die erfolgreiche Pianistin ihr bisheriges Leben. Sie will ihren Mann, ihre Wohnung, ihre Karriere und Paris hinter sich lassen.
All dies nimmt in Villa Amalia reichlich Raum ein. Man kann zusehen, wie eine Identität zerfällt und wie viel Mühe dies kostet. Nicht nur seelische, auch organisatorische. Ist es komplizierter ein Konto oder sich selbst aufzulösen, schwieriger Verträge oder Beziehungen zu kündigen? Die Stimmung ist kühl. Befreiende Aufbruchstimmung vermitteln weder Regisseur Benoît Jacquot noch seine Hauptdarstellerin Isabelle Huppert. Flucht ja, aber nicht in den Eskapismus. Die Einsamkeit muß erst mühsam erkämpft werden, um den eigenen Platz in ihr zu finden. Der eilig beschlossenen Zäsur steht die Anstrengung entgegen, sie zu verwirklichen. Nur im Schnitt gelingen die scharfen Trennlinien, die Ann erst ziehen muß. Ruhepunkte in der unsteten, sprunghaften Montage sind ihre Gespräche mit Georges. Ihn hatte sie in jenem Nieselregen des Pariser Vorortes nach ihrer Entdeckung wiedergetroffen. Ein Freund aus einer fremden Zeit. Er kennt sie sogar noch unter anderem Namen, einer bereits zurückgelassenen Identität. In den Gesprächen mit ihm sagt sie häufig »Das ist wahr!« auch wenn die einzelnen Wahrheiten über sie wenig zusammenpassen wollen. Das Eingeständnis dessen findet bei einem Klaviervorspiel zu Beginn ihrer Reise statt. Sie spielt eine eigene Komposition, die disharmonisch und launenhaft klingt. Schließlich lächelt Ann, obwohl ihre Zuschauer eher wenig mit ihrer Musik anfangen können.
Ann wird von Jacquot in klaren Bildern verwischt. Müßig zu spekulieren, ob die unprätentiöse Inszenierung auch ohne das feine Spiel Hupperts ihre uneindeutige Empfindsamkeit bewahren könnte. Die Protagonistin reist jetzt über die Alpen nach Italien. Kurz sieht man einen Mann mit dem Rücken zur Kamera sitzen, dann Ann neben ihm aufwachen. Vieles bleibt Andeutung, manches wird Metapher. Sie muß erst über die Berge steigen, um ans Meer zu kommen. Ihre eigenen Abgründe durchschreitet sie dabei allein, ohne die Zuschauer. Je länger ihre Reise dauert, desto weniger Einsicht gewährt Jacquot in ihr Inneres. Zwar kommt sie an der titelgebenden Villa Amalia an, sie hört aber nur räumlich auf, sich zu bewegen. Barsch einer Einheimischen abgetrotzt, ist das rote Haus indes kein Ort des Wohlseins. Ann probiert aus: Menschen, Wein, Selbstbilder. Sie handelt dabei mithin egoistisch. Für Narzißmus ist noch niemand zu lieben da. Schwamm sie zuvor noch erschöpft auf engen Bahnen, liegt sie nun auf dem Rücken im Meer. Sie ist befreit, aber noch nicht entlastet. In der Einsamkeit ist sie erst noch auf der Suche.
2010-11-19 12:09