Memento moriendum esse!
Von Martin Thomson
Wenn es so ist, daß einem die Bilder des Films bezeugen, daß das, was sie zeigen, der Vergangenheit angehört und deswegen unweigerlich verloren ist, dann ist der Historienfilm die extreme Entsprechung dieses Prinzips. Als gegenwärtig zu präsentieren, was im Augenblick seines Erscheinens bereits vergangen ist, erhält durch den Bezug auf weit zurückliegende Epochen, deren Zeitgenossen nur tot sein können, nicht nur eine seltene Transparenz, im Idealfall kann sie einen Regisseur dazu veranlassen, dieses Verhältnis zu transzendieren – denn im Historienfilm ist alles Lebendige nicht nur das immer schon Vergangene, sondern zugleich das auch immer schon Totgewußte.
Das Genre pflegt deswegen einen äußerst störrischen Umgang mit den Toten. Ihre Reinkarnation als Bilder – die gleichwohl der individuellen Subjektivität ihrer einstmals dagewesenen Referenten entkleidet sind – wird in einem gewaltsamen Akt der Verlebendigung erzwungen, wodurch sie ihrer Chance beraubt werden, in der lebendigen Erinnerung anderer Menschen lebendig zu bleiben oder tatsächlich wieder aufzuerstehen. Aus diesem Grund meint dann auch Jacques Derrida, daß sie in den Medien nicht als Menschen, sondern als Gespenster zurückkehren.
Freilich mag ein gebildeter Mensch eine solche Theorie als ziemlich hirngespinstig abtun: So wie als ausgemacht gelten kann, daß jeder um den Ausgang des Lebens von Marie Antoinette weiß, wird bei der Sichtung von Leb wohl, meine Königin! wohl auch niemand so dumm sein, Diane Kruger mit der dahingeschiedenen Königin von Frankreich zu verwechseln. Durch deren Enthauptung wurde immerhin die Karriere einer Idee mit eingeleitet, die dem Menschen einen Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit garantierte, solange es ihm nur gelingen würde, seinen Wunderglauben an Gespenster oder Könige von Gottes Gnade zu überwinden. Alles Magische, Mystische, kurzum alles Dunkle, sollte vom gebündelten Lichtstrahl der Vernunft neutralisiert werden, um die (neue) Welt in einer Klarheit erstrahlen zu lassen, wie sie sich nun auch im Film von Benoît Jacquot antreffen läßt.
Um die letzten Tage der Souveräne des Ancien Régime geht es hier, oder etwas genauer, um die Beziehung zwischen Antoinette und der ihr verfallenen Sidonie, die am Hof von Versailles als ihre Vorleserin angestellt ist. Sie gehört zu jenen Bediensteten, aus deren Phantom-Perspektive man dem Adelsgeschlecht dabei zuschaut, wie es langsam ausblutet. Nur gerüchteweise sickert die Nachricht vom Sturm auf die Bastille durch die Mauern des Schlosses, woraufhin in der abgeschiedenen Wirklichkeit zu Hof die Diener – und mit ihnen die Zuschauer – zu Voyeuren der schleichenden Exhibition ihrer totgeweihten Götter werden. Unterdessen schreibt sich das luzide Licht- Arrangement von Romain Winding in deren Antlitz als Tod ein: ganz so, als wäre die auratische Undurchsichtigkeit dieser in Großaufnahme gebannten Gesichter einem Prozeß der allmählichen Ausbleichung unterworfen, kurz davor, mit der Auflösung ihrer Körper zu Gespenstern zu enden.
Versailles wird das Memento mori dieser zu Tode Seienden überdauern: Spätestens als Kulisse für Jacquot, der die prunkvolle Anlage nicht nach Maßgabe ihres hegemonialen Selbstverständnis einfängt, sondern sie gemäß der seelischen Verfassung und sozialen Situierung seiner Figuren als eine innere Topographie aus Widersprüchen und Verfänglichkeiten (re-)konstruiert, die sie entweder zum Ausbruch oder zur Einkapselung nötigt. In den Schwellenräumen, den Nahtstellen, welche die sterilen Gemächer der Aristokraten und die schäbigen Souterrains der Dienerschaft miteinander verbinden, landet Sidonie stolpernd auf ihrem Hinterteil oder erwacht aus einem Traum, der zuvor noch als Realität behauptet wurde. Insofern sie das einsame Kommen und Gehen der Heldin vor und nach den großen Szenen beschreiben, sind diese Passage- Sequenzen – wie Béla Balázs sagen würde – ihre Monologe: Sie ziehen die Vorahnung und die Nachwirkung eines Ereignisses zu einem gemeinsamen Ausdruck zusammen. Jenseits der Schwelle wartet die niemals in Erscheinung tretende Katastrophe – und dazwischen, im Übergang, bevor der Film endet, findet das Fackelfeuer der Revolutionäre seinen letzten Wiederschein im aufrötenden Antlitz von Sidonie. Der gebündelte Lichtstrahl der Projektionslampe hat den rationalen Einwand gegen die Gespenster in seine Bestandteile aufgelöst: Das ist kein Rot, das ist Blut!
2012-05-29 10:44