Birken oder Beton
Von Moritz Pfeifer
Für die mystisch gesinnten Filmemacher aus Rußland führt kein Weg vorbei am Birkenwald. Spätestens seit Tarkowskis
Ivans Kindheit sind die schwarzweißen Bäume zu einem Merkmal spiritueller Suche geworden. So auch in Alexej Fedorchenkos
Stille Seelen. Hier bestattet ein merjanischer Papierhersteller namens Vesa seine jüngst verstorbene Frau. Begleitet wird er von Aist, dem Schriftsteller und Erzähler der Geschichte. Die Bestattungstradition der Merjas sieht es vor, die verstorbenen Verwandten selbst zu verbrennen und ihre Asche dann einem Gewässer zu übergeben. So ist die Handlung des Films erzählt, doch Fedorchenko und sein Erzähler suchen in ihrem Werk vor allem nach einem unkorrumpierten Leben und meinen es in den Bräuchen der Merja gefunden zu haben.
Nur in der Birkenszene, gegen Ende des Films, reflektiert der Erzähler des Films noch einmal über die Reise und kommt zu dem Schluß, daß er, genauso wie sein verwitweter Freund, vielleicht doch etwas naiv ist; er, im Glauben, mit seiner Erzählung die verlorene Kultur Rußlands auszugraben und Vesa, im Glauben, durch sein Bestattungsritual seiner Frau im nächsten Leben wiederzubegegnen. Ironischerweise stößt Vesa währenddessen einen Birkenbaum um. Kurz, ob Frau oder Kunst, was tot ist, ist tot.
Schon seit längerem scheint das Kino aus Rußland nur noch von zwei Tendenzen bestimmt.
Stille Seelen zeigt die mystische Seite des russischen Films. Dieser und ähnliche Filme suchen in nostalgischen Traumwelten nach der Wahrheit. Anderen Filmemachern ist die nackte Realität lieber. Statt den entferntesten Winkeln des Landes eine sonst vergessene Harmonie zuzuschreiben, zieht es sie in die verkümmerten Provinzen vor Moskau oder St. Petersburg. Hier, zwischen Sowjet-Utopien aus Beton, verursacht die Kluft von Arm und Reich barbarische Zustände. Wer dieses Jahr beispielsweise V. Sigarevs
Living (2012) gesehen hat, der meint zu verstehen, warum Rußlands Tötungsrate ungefähr dreißig mal höher ist als Deutschlands.
Kein Wunder, daß die russischen Mystiker in ihren Filmen an dem Wahren, Schönen, Guten festhalten wollen. Der Beton-Realität setzen sie bedeutungsschwere Birkenwälder entgegen. Filme wie
Stille Seelen oder
The Hunter (2011) lassen die Hoffnung am Leben, daß es jenseits von Gewalt und Terror noch Mütterchen Rußland gibt. So entsteht eine merkwürdige Form der Abhängigkeit. Je mehr Filme nur noch über Mord und Totschlag berichten, desto fester scheint in anderen Filmen die Überzeugung zu wachsen, daß es eine Lebensform geben muß, die davon unbeeinträchtigt bleibt.
Die Illusion ist hier allzu deutlich. Denn der stille Seufzer über die Betonwelten klingt bei diesen Filmemachern allzu deutlich mit. Aber in Wirklichkeit wollen sie sicherlich nicht ein Teil von dem sein, was sie darstellen. Was bleibt: Sozialromantik. Das Gefühl einer Früher-war-alles-besser-Mentalität ist vorherrschend – vielleicht trifft sie auf einen Jahrhunderte alten Birkenwald zu, aber wohl kaum auf ein in Armut lebendes Volk.
2012-11-12 09:17