Alte Liebe rostet
Von Oliver Baumgarten
Glucksend und keuchend pumpt die alte Kaffeemaschine das heiße Wasser durch den Schlauch in den Filter – so, wie sie es jeden Morgen getan hat, Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Wie ein röchelndes Husten klingt sie auf einmal, wie ein gurgelndes Lamento scheint sie Inges Geständnis zu kommentieren, das sie Werner an jenem Morgen macht, einfach so, nach dreißig Jahren Ehe. »Werner«, wird sie vermutlich mit zitternder Stimme angesetzt haben, um nach ängstlichem Seufzer anzuschließen: »Ich habe mich nochmal neu verliebt.« Andreas Dresen zeigt uns dieses Geständnis nicht, und doch muß man es sich unwillkürlich vorstellen. Im Film beginnt die Szene mit Werners Reaktion: Ein Mann um die siebzig, fassungslos, schimpfend, er greift Inge an, kann seine Angst nicht kanalisieren und muß sich in seiner Verwirrung verspottet fühlen von der Aufdringlichkeit des Alltäglichen, mit der sich die Kaffeemaschine gerade gluckernd einen Kehricht um die Dramatik des Lebens schert.
Andreas Dresens Wolke 9 erzählt das klassische Dreieck, eine Frau zwischen zwei Männern. Hier ist es Inge, die sich nach dreißig Jahren Ehe in den 76jährigen Karl verliebt, die alle Sicherheiten aufs Spiel setzt, um noch einmal die Liebe zu erleben. »Ich habe es nicht gewollt«, beteuert sie immer wieder Werner gegenüber. »Es ist einfach passiert.« Gleich die ersten Einstellungen des Films beweisen durchaus explizit ihre Leidenschaft, ihre neu entfachte sexuelle Lust, mit der sie sich Karl hingibt. Sie entscheidet sich schließlich für Karl und verläßt ihren Mann. Inges Ehrlichkeit zu Werner und ihre Konsequenz sind hart, und am Ende muß sie bitter dafür bezahlen.
Inge gehört zu den stärksten Frauenfiguren im deutschen Kino der letzten Jahre und ist damit ganz klar einer der Gründe dafür, warum Wolke 9 als Gesamtes von solch reiner Schönheit ist. Der Film erzählt eine kleine, simple Geschichte, aber trifft in seiner Ehrlichkeit, Uneitelkeit und Wahrhaftigkeit die ganze Größe authentischen Erzählens. Der Film ist mit der gleichen Methode und dem gleichen Minimalteam gedreht wie schon 2002 Halbe Treppe: Es existierte kein ausgearbeitetes Drehbuch, Figuren und Dialoge wurden in gemeinsamer Arbeit vor Ort entwickelt und ausgestaltet. Man ist stets versucht, diese Umstände der Entstehung mitzuerzählen, dabei hat Wolke 9 diese Zusatzinformation im Sinne einer anerkennenden Respektbezeugung eigentlich überhaupt nicht nötig: Wüßte man es nicht, man würde es dem Film keine Sekunde lang anmerken. Unter all dem belanglosen Zeug, das so projiziert und versendet wird, ragt Wolke 9, bei dem kein einziges Wort redundant ist, kein einziges Bild bloßes Schmuckwerk und keine einzige Geste aufgesetzt wirkt, einfach als einsames Meisterwerk an Wahrhaftigkeit und punktgenauem Erzählen meilenweit heraus. Aber da man um die Umstände schon mal weiß, verwundert es um so mehr, welch perfekten Grad an Verdichtung die Erzählung erreicht – ein Zustand, den auch Jahre gründlichster Drehbuchentwicklung schwerlich zu schaffen vermögen. Ein solcher Grad an Verdichtung kann eigentlich nur auf eine Art entstehen: aus dem gedrehten Material selbst und damit im Schnitt.
Oberflächlich betrachtet scheint Wolke 9 ein Film über die Liebe im Alter zu sein – ein Film also, der sich einem in gewisser Weise gesellschaftlich tabuisierten Bereich nähert, mit dem sich bisher praktisch noch kein deutscher Filmemacher wirklich ernstzunehmend beschäftigt hat. Unter dieser eher plakativen Ebene aber erzählt Wolke 9 über Inges Figur von einem sehr viel allgemeingültigeren Thema, das durch das Alter der Protagonisten lediglich eine größere Fallhöhe erhält: vom Aufgeben von Sicherheiten nämlich, vom Einschlagen neuer Wege und vom Mut, den es erfordert, im Leben stets seinem Herzen zu folgen. Ursula Werners eindrückliches Spiel verleiht diesem Mut eine zwischen überzeugtem Trotz und ängstlicher Verantwortlichkeit changierende Note, die letztlich den Kern dieser gleichsam sympathischen wie nachgerade klassisch-tragischen Figur ausmacht. Inge entwickelt sich am Ende sogar zu einer derart klassischen Tragödienheldin, daß der Einfall, sie in einem Chor Lieder singen zu lassen, die ironisch Inges Situation spiegeln, von einem geradezu perfiden Witz zeugt – ein Humor, der insgesamt noch am ehesten Erinnerungen an den doch wesentlich verspielteren Halbe Treppe wachzurufen vermag. Ursula Werner jedenfalls gelingt es mit ihren kongenialen Partnern Horst Rehberg und Horst Westphal, jenen Mut zu neuen Wegen auch in ihrer eigenen Arbeit umzusetzen, indem sie all ihre Lebens- und Berufserfahrungen in die beherzte Gestaltung der Rollen investiert haben. Es ist ein Mut, der mit diesem Meisterstück visueller Erzählkunst wirklich reichlich belohnt wird.
2008-07-07 12:40