Zelluloid mal anders
Von Daniel Bickermann
Tischtennis ist der übersehene Sport Deutschlands. Als das Doppel Roßkopf/Fetzner 1989 vor heimischem Publikum Weltmeister wurden, faselten die Zeitung noch von irgendeinem Bum-Bum-Boris, und als sich Timo Boll 2002 als erster deutscher Spieler überhaupt zur Nummer 1 der Weltrangliste hochschoß, sendete Eurosport lieber Schumi-Rennen aus der Konserve.
Sie wußten ja nicht, was sie verpaßten: In deutschen Turnhallen von Jülich bis Plüderhausen kann man noch heute für eine Handvoll Euro die Weltelite spielen sehen und dabei einen Haufen Paradiesvögel bewundern, wie sie in populäreren Sportarten längst mit Sprichworten und Volksliedern geehrt worden wären: Da gibt es Jörg Roßkopf, der letztes Jahr als 39jähriger noch Mannschafts-Europameister wurde und dabei ein letztes Mal seinen über lange Jahre perfektionierten Stil demonstrierte, auf jeden möglichen und unmöglichen Ball blind draufzudreschen – in seinen besten Jahren traf er davon dann 51 Prozent und kam unter die besten 5 der Weltrangliste, obwohl er die restlichen 49 Prozent mit solcher Zielstrebigkeit in die Prärie jagte, daß sich die Herzinfarktrate in der Halle angesichts dieses Glückspiels mal schnell verdoppelte. Oder Phillipe Saive, der Bruder des langjährigen Weltranglistenersten Jean-Michel Saive und eine Art John McEnroe des Tischtennis, der auf jedem Turnier die verdutzten Zuschauer an eine selbst unter Vereinsspielern weithin unbekannte Regel erinnerte, indem er sich wegen Meckerns mit einer gelben Karte verwarnen ließ. Oder der Wahlösterreicher Chen Weixing, der als einer der letzten Spieler noch lange Noppen auf seinen Schläger klebt und damit so erbarmungslos verteidigen kann, daß sich ein Kommentator einst zu dem Spruch hinreißen ließ, dieser Mann hätte Fort Alamo noch mit einem Küchenmesser gegen die mexikanische Armee gehalten. Und wer noch nie den großen Jan-Owe Waldner gesehen hat, wie er mit seiner meterhohen Ballonabwehr selbst die brutalsten koreanischen Dreschflegel in den Wahnsinn treibt, der hat sowieso sein Leben verschwendet.
Der knackige Marketing-Spruch auf der DVD-Hülle zu Jörg Adolphs preisgekröntem Dokumentarfilm Klein, schnell und außer Kontrolle, der verspricht, daß uns hier »Tischtennis wie noch nie« präsentiert werde, nämlich »packend, überraschend und unterhaltsam«, ist angesichts solcher Erfahrungen natürlich albern, aber sei’s drum. Man schaut diesem inzwischen schon etwas angejährten Zeitdokument über die beiden so unterschiedlichen deutschen Nachwuchshoffnungen Timo Boll und Lars Hielscher trotzdem gerne zu. Es bleibt ein wenig schade, daß Adolph die eher unspektakulär verlaufende EM 2000 in Bremen begleitete anstatt den magischen Weltcup 2002, bei dem ein sichtlich gereifter Boll plötzlich Weltmeister Wang Liqin mit 4:0 demütigte und im Finale Olympiasieger Kong Linghui mit 4:1 von der Platte fegte. Aber dem Dokumentaristen Adolph, der mit dieser Abschlußarbeit auch gleich den Deutschen Fernsehpreis 2001 holte, gelingt trotzdem ein reizvolles Experiment: eine Persönlichkeitsstudie unter Profisportlern, die noch nicht von den Boulevardkameras aufgerieben und abgestumpft wurden; und als Bonus gleich noch ein Porträt ihrer so komplizierten Disziplin, dieser »Sportart für die Verrückten«, wie Tischtennis gleich zu Beginn des Films genannt wird.
Tischtennis stellt den Dokumentarfilm inhaltlich wie visuell vor zahlreiche scheinbar unauflösbare Widersprüche: Es ist von explosiver Schnelligkeit, die sich mit langen Pausen abwechselt; es gleicht einem rasanten Fechtkampf, spielt sich aber auf Distanz ab; zudem ist es ein Mannschaftssport für Einzelkämpfer. Erschwert wird ein Film über Tischtennis zudem von der erbärmlichen Wissenslage: Selbst ausgebildete Sportjournalisten sind, wie der Film gnadenlos aufdeckt, meist völlig ahnungslos, wenn sie nicht gerade von den Fachmagazinen kommen. Es ist ein Sport, bei dem man sehr genau hinschauen und viel Vorwissen mitbringen muß. Adolph gelingt es vor allem mit Hilfe schöner Zeitlupenstudien und Körperdetails aus der etwas abwegigen Physiognomie dieses Sports (sowie mit hilfreichen Fachgesprächen), dem Zuschauer ganz nebenbei das Belagkleben, die Ballrotation und die Mysterien des Aufschlags zu erklären, ohne das Gefühl zu erwecken, hier einen Wissenschaftsfilm abzuliefern. Tatsächlich entsteht so ein erstaunliches Verständnis für die Geheimnisse dieser kleinen, schnellen und kaum kontrollierbaren Zelluloidkugel, die im Spiel schon mal 170 km/h schnell werden und 50 mal pro Sekunde um die eigene Achse rotieren kann.
Auch die beiden Jungsportler Boll und Hielscher sind Gegenpole, die der Filmemacher mit Hilfe der Montage erst vereinen muß: Der eine ist ein verhätscheltes Wunderkind auf dem Sprung in die Weltspitze, bekam noch im Schulalter eine ganze Bundesligamannschaft um sein Elternhaus gruppiert, damit er im Heimatort trainieren konnte, beschäftigt sich mit seiner Fönfrisur, wird in Japan von kreischenden Groupies verfolgt und räkelt sich gerne vor der Großbildleinwand seines Heimkinos im elterlichen Keller. Der andere spielt nach dem Abitur gerade seine erste Profisaison und wird sehr bald vom tristen Alltag in der Bundesliga eines Nischensports eingeholt: eine vollgestellte Einzimmerwohnung mit trocknender Wäsche, anstrengende Reisen, gleichgültige Mitspieler und dann auch noch eine ausgewachsene Formkrise. Anstatt großen Glamours besteht das Leben aus einem unsicheren Job und kalten Betonkatakomben, in denen man sich fürs Spiel aufwärmt. Von Privatleben keine Spur, dafür eine Infektion kurz vor der EM, Trainingsrückstand und haufenweise ungelenke Fehler. Wenn du die Krätze erstmal am Schläger hast, sagt man, kriegst du sie lange nicht mehr ab. Und selbst wenn man mal ein wichtiges Spiel gewinnt, gibt es in der Spielerkabine keine Bierdusche, sondern nur Marmorkuchen von Mama aus der Tupperdose.
Der Film ist bei all dieser Fülle von Fundstücken nicht ohne gelegentliche Ausrutscher: Eine etwas absurde Theorie zum unbewußten Hörverständnis der Spieler inklusive Schlägerhaltungskorrektur innerhalb der Tausendstelsekunde des Ballkontakts dient Adolph als Anlaß zu einigen Ton-Experimenten, die nicht immer funktionieren. Auch die wahrlich würdelose Eskapade über den unsäglichen EM-Song 2000 hätte nicht unbedingt mit aufs Zelluloid gemußt. Dafür haben die Kameraleute Jens Schanze und Luigi Farloni gleich einen ganzen Hutvoll erstaunlicher visueller Ideen, die einen sonst auch mal eintönigen Sport mal poetisch, mal psychedelisch zeigen. Und die Montage der Schnitt Preis-Trägerin Anja Pohl ist nichts weniger als brillant: Sie kreiert fantastische Video-Audio-Überlappungen wie den grandiosen, halbironischen »Hero Entrance« von Jörg Roßkopf und unterlegt wunderbare Stimmungsbilder mit genau den richtigen Voice Over-Kommentaren und Musikeinsätzen. Sie läßt dabei die spektakulären Ballwechsel auch mal außen vor (obwohl auch davon zwei oder drei vertreten sind) und konzentriert sich lieber auf die so essentielle Psychologie des Spiels, auf die kleinen Wehwehchen und die großen Gefühle, auf die Blicke, den Streß, den Druck, die Erleichterung, die Atmung der Spieler. All das überträgt sich dank eines perfiden Rhythmus’ aus Anspannung und Erleichterung direkt auf den Zuschauer.
Als Extras sind auf der DVD lediglich zwei 30-Sek-Loops zum Bewegungsstudium und ein kleines Feature über den spöttisch-liebevollen, aber letztlich leider nur halbherzigen Versuch des DSF, mal ein bißchen Tischtennis zu übertragen. Es hat nichts geholfen: Tischtennis ist noch immer der übersehene Sport Deutschlands.
2008-06-02 13:01