Vier Farben – Grau
Von Carsten Tritt
Die Betrachtung von Kieślowskis frühen Spielfilmen – in der DVD-Box von absolut medien vertreten mit Die Narbe, Der Filmamateur, Der Zufall möglicherweise und Ohne Ende – verdeutlicht insbesondere seine Fähigkeiten als Drehbuchautor. Das soll nicht heißen, daß sie inszenatorisch uninteressant wären. So ist zum Beispiel gleich der Anfang von Die Narbe, in welcher die Funktionäre mit ihren Autos hilflos im Wald hin- und hermanövrieren, und der somit direkt die ganze filmische Betrachtung des Nichtfunktionierens von Sozialismus vorwegnimmt, herrlich. Allerdings sind solche Momente selten, und so wirkt Kieślowskis äußerst langsam dargelegter strikter Realismus inzwischen deutlich gealtert. Obschon sich der Regisseur entsprechend zurückhält, und manche Straffung vielleicht nicht geschadet hätte, läßt sein beobachtender Blick immerhin den Büchern ausreichend Raum, sich mit vollem Intellekt zu entfalten.
Je weiter sich Kieślowski jedoch von seinem inszenatorischen Realismus entfernt, desto interessanter wird sein immer noch stets moralisch-kritischer Blick, besonders im letzten, bleiernsten Film der hier vorliegenden Zusammenstellung, Ohne Ende, der die konkreten politischen Verwerfungen in Polen aus der abstrahierten Sicht eines Geistes betrachtet. Aber auch in Der Zufall möglicherweise ist dies bereits ersichtlich, als dort zwar die Inszenierung immer noch dem fast dokumentarisch wirkenden Realismus verhaftet ist, Kieślowski jedoch die Geschichte seines Protagonisten in drei Varianten zeigt, beginnend zu einem Moment, indem seine Hauptfigur einem Zug nachhetzt, endend in dem Moment, in dem sie Jahre später versucht, ein Flugzeug zu erreichen. Einmal schafft er es noch, auf den Zug aufzuspringen, und wird linientreuer Sozialist, beim zweiten mal hingegen rennt er einen Bahnpolizisten um und wird Oppositioneller: Kieślowski läßt letztlich zwar beide Lebensentwürfe scheitern, den dritten jedoch, welcher einfach aufhört zu laufen, den Zug fahren läßt, sich ins Private zurückzieht und sich aus allem heraushält, vernichtet er am Ende sogar.
Kieślowskis moralische Sicht mag somit simpel scheinen, aber sie ist gut genug durchdacht, um in ihr aufzuzeigen, warum eine Gesellschaft nicht funktioniert, und klug genug, um darauf zu verzichten, eine Scheinlösung zu akzeptieren oder gar zu präsentieren. Der frühe Kieślowski gehörte sicher nicht zu den optimistischsten Filmemachern, dafür aber zu den intelligenteren.
2010-06-01 10:53