— — —   DER SCHNITT IST OFFLINE   — — —

Die Kinder von Golzow

DDR/D 1961-2008. Golzow 1961-1975, Golzow 1979-1986, Lebensläufe 1980/1981, Drehbuch: Die Zeiten, 1992, Das Leben des Jürgen von Golzow (1994), Die Geschichte vom Onkel Willy aus Golzow (1995), Was geht euch mein Leben an. Elke – Kind von Golzow (1996), Da habt ihr mein Leben. Marieluise – Kind von Golzow (1997), Brigitte und Marcel – Golzower Lebenswege (1998), Ein Mensch wie Dieter – Golzower (2000), Jochen – ein Golzower aus Philadelphia (2001), Eigentlich wollte ich Förster werden – Bernd aus Golzow (2003), Und wenn sie nicht gestorben sind… Das Ende der unendlichen Geschichte (2006), …dann leben sie noch heute. Das Ende der unendlichen Geschichte (2008)
ca. 2.580 Min. Absolut Medien ab 9.7.10

Sp: Deutsch (Mono). Ut: Englisch. Bf: 1.33:1. Ex: Bonusfilme: Kinozeit, Barbara und Winfried Junge im Gesprach mit Jurgen Haase (PROGRESS Film-Verleih, 46 Min.), Druschba, Dollars und Karbowanzen (30 Min.), Vielleicht bin ich ein Don Quichotte. Winfried Junge und die Kinder von Golzow (59 Min.), Pressestimmen, Fotogalerien, Bio- und Filmographien, Trailer, Infotafeln.

Gruppenbild mit Kindern

Von Friederike Horstmann Angefangen hatte alles 1961, im Jahr des Mauerbaus, als Wilfried Junge die Kinder aus Golzow, einem kleinen Ort im brandenburgischen Oderbruch, bei ihrer Einschulung beobachtete. Nach einer Idee des DEFA-Dokumentarfilmers Karl Gass entstand der erste 13minütige Film mit dem Titel: Wenn ich erst zur Schule geh. Fast ohne Kommentar und ohne lehrreiche Interpretationen zeigen die ersten Schwarzweißfilme der Jahre 1961-75 die einstigen Schulanfänger als »Junge Pioniere«, zeigen Schulstunden und Ausflüge nach Weimar, ins ehemalige KZ Sachsenhausen, ins Petrochemische Kombinat, zeigen polierte Jugendweiheschuhe, Tanzfeste mit Beat-Musik – erste Küsse, Lieben, Kinder.

Fast ein halbes Jahrhundert hat Junge, später auch mit seiner Frau Barbara, die »Kinder von Golzow« mit der Kamera begleitet – auch nach dem Zusammenbruch der DDR. Nach 46 Jahren beenden die Junges im Jahr 2008 ihre Dokumentation mit dem Film …dann leben sie noch heute – das Ende der unendlichen Geschichte, wie es im Untertitel heißt. Die Chronik umfaßt insgesamt 20 Filme, hat eine Gesamtlaufzeit von mehr als 43 Stunden und gilt als umfangreichste der Filmgeschichte. Die zunächst in Schwarzweiß, später auch in Farbe gedrehte Langzeitbeobachtung gliedert sich in drei Abschnitte, in die frühen Gruppenfilme, in den ersten filmischen Rückblick nach dem Fall der Mauer und schließlich in 18 eindrückliche Einzelportraits, die im allerletzten Film auch abgebrochene, fragmentarische Geschichten umfassen. In dem einzigartigen Montage-Kunststück verdichten sich Lebens- und Familiengeschichten ebensosehr wie Alltagsgeschichten eines untergegangen sozialistischen Staates.

Daß so viele der ehemaligen Golzower Schüler überhaupt über Jahre hinweg ihr Leben der Kamera preisgaben, ist vor allem der unermüdlichen Ungeduld und Neugier Wilfried Junges zu verdanken. Manche der Portraitierten scheinen trotz Emanzipation, trotz Abgrenzung seine Kinder geblieben zu sein: In den späten Portraitfilmen zeigt sich seine Beharrlichkeit auch in didaktischen Fragen und belehrenden Kommentaren, die sich aus dem Off über die Bilder legen. Junge erklärt, begründet, interpretiert – auch um verbale Leerstellen zu füllen. Denn häufig sind die Dialoge stockend, die Protagonisten spröde und sprachlich wenig gewandt. Gerade weil sie verlegen um ihre Worte sind, muß man sich einlassen, muß genau hinsehen, genau hinhören. Das gesamte Konvolut der ausufernden Chronik stellt eine unschätzbare Quelle dar. Die Bilder aus Lebens- und Arbeitswelt erschließen vor allem eines: einen Raum, von dem aus sich der Alltag eines sozialistischen Deutschlands wahrnehmen und nachvollziehen läßt. In ihrer Ambivalenz waren die Golzow-Filme für ideologische Zwecke kaum zu gebrauchen, denn der gefilmte DDR-Alltag zeigt auch die offiziell mißliebigen schlechten Wohnverhältnisse, die Mangelwirtschaft.

Die dokumentierten Lebenswege der im Dorf Golzow aufgewachsenen Kinder könnten kaum unterschiedlicher sein: Bittere Bilder zeigt beispielsweise die brüchige Biographie von Gudrun, ein großes Mädchen mit herber Physiognomie, Tochter des LPG-Vorsitzenden, nach dem Staats- und Rechtstudium Bürgermeisterin in der Nachbargemeinde; für die Parteifunktionärin wird der Zusammenbruch der DDR zu einem unfaßbaren Erlebnis. Doch schon als Bürgermeisterin erfüllt sie vor allem die Pläne anderer, kommt beklemmend ernsthaft ihren Pflichten und Notwendigkeiten nach. Ganz anders das Leben von Marieluise: Sie trägt kein Pionierhalstuch, kein FDJ-Hemd, ist unbefangen, hinterfragend, neugierig. Nach dem Schulabschluß zunächst Chemielaborantin, heiratet sie mit 23 einen NVA-Offizier, hat zwei Töchter und siedelt 1995 als erste in den Westen über. Wendeturbulenzen werden hier erstaunlich gut überstanden.

Vieles, sehr vieles wäre über diese längste Chronik noch zu schreiben. Das Schlußwort hat Dieter, der unternehmens- und reisefreudige Zimmermann, der als Sitzenbleiber in die Klasse kam: »Dit Leben, dit is zwar och ne lange Zeit, dit jet aber och wieda schnell vorbei.« 2010-07-09 11:38

Abdruck

Medien

© 2012, Schnitt Online

Sitemap