— — —   DER SCHNITT IST OFFLINE   — — —

Mike Leigh

Mike Leigh abseits vom Rampenlicht

Kein Mönch im Gebirge

Von Patrick Heidmann Mike Leigh gilt als einer der wichtigsten Vertreter des »New British Cinema«. Seine Improvisationsmethode ist mittlerweile legendär, ebenso wie sein Händchen für unaufgeregte, aber sozialkritische Stoffe.

Mr. Leigh, in Ihren Filmen verhandeln Sie meist Alltägliches, oft bestimmen Kleinigkeiten die Handlung. Woher nehmen Sie die Ideen zu diesen Geschichten?

Schlicht und einfach aus dem Leben. Wobei mir das Wort nicht gefällt, denn in meinen Filmen geht es nicht um Ideen, sondern um Gefühle und Erfahrungen. Another Year im Speziellen ist ein komplexes Netz von Eindrücken, Themen und Momenten, genau wie eben das Leben selbst. Wenn Sie so wollen, hat der Film seinen Ursprung in der Tatsache, daß ich 67 Jahre alt bin und viel gesehen und erlebt habe. Langjährige zwischenmenschliche Beziehungen, Vertrauen und Einsamkeit, Fortschritt und Endlichkeit, all das findet sich auf der Leinwand wieder.

Die Einsamkeit und der teilweise desolate Zustand einiger Figuren in Another Year: Sind das auch Kommentare zum Zustand unserer heutigen Gesellschaft?

Nun, diese Menschen in meinem Film sind Teil der Gesellschaft, also ist natürlich die Gesellschaft auch Teil meines Films. Da geht es um materielle Aspekte genauso wie um geistige. Daß mancher, der einsam und verzweifelt ist, zum Alkoholiker wird, ist zwar einerseits ein individuelles Verhaltensmuster, aber andererseits mindestens so sehr ein Resultat des Umgangs unserer Gesellschaft mit ihren Individuen. Insgesamt aber sollten die Tagespolitik oder die Wirtschaftskrise nur ganz implizit in der Geschichte mitschwingen und nicht irgendwie im Vordergrund stehen.

Aber Sie haben schon den Eindruck, daß die Menschen mehr und mehr vereinsamen oder unglücklicher werden?

Ich habe nicht den Eindruck, sondern es ist schlicht und einfach der Fall. Insgesamt würde ich aber behaupten, daß Another Year ein sehr zeitloser Film ist, der sich mit zwischenmenschlichen Phänomenen beschäftigt, die allgemein und immer gültig waren bzw. sein werden. Am ehesten einen konkreten Bezug zu unserer ganz aktuellen Gegenwart hat vermutlich das Thema Natur und Umwelt, für das nicht zuletzt die Protagonisten Tom und Gerri mit ihrem Garten außerhalb der Stadt stehen.

Die beiden sind als Paar sehr viel glücklicher und gesünder als die Singles um sie herum. Gehören für Sie Zweisamkeit und Familie zum Glück zwingend dazu?

Das wäre eine sehr vereinfachende und reduktionistische Deutung des Films. Natürlich kann es großartig sein, wenn man sich in einer stabilen, erfüllenden Partnerschaft weiß. Aber wie viele Beziehungen sind schon so? Tom und Gerri sind meiner Meinung nach nicht glücklich, weil sie eine gute Ehe haben, sondern sie haben eine gute Ehe, weil sie jeder für sich zufrieden sind und in sich ruhen. Ich würde es sehr naiv finden, daraus meine Haltung zum Thema Familie ablesen zu wollen.

Sie zeigen im Film auch verschiedene Freundschaften. Wie verändern sich solche, wenn man älter wird?

Das ist eine interessante Frage. Man beobachtet natürlich, daß manche Freundschaften halten und andere dagegen an Bedeutung verlieren oder sogar ganz wegbrechen. Je jünger man ist, desto mehr Freunde hat man. Aber das Thema allgemein verliert nie an Wichtigkeit. Insgesamt ist es doch so, daß sich im Laufe des Lebens die Erwartungen und Bedürfnisse verändern, was selbstverständlich Einfluß auf die zwischenzeitlichen Beziehungen hat. Aber Sie merken schon, daß ich da sehr vage bleibe. Das ist einfach für jeden eine sehr individuelle Angelegenheit.

Sind Sie eigentlich mit Ihren Schauspielern befreundet, mit denen Sie ja immer wieder zusammenarbeiten? Oder anders gefragt: Könnten Sie solch beeindruckende, intime Darstellungen wie von Lesley Manville auch jemandem entlo­cken, den Sie praktisch nicht kennen?

Sicherlich, denn irgendwann gibt es ja immer ein erstes Mal. Auch mit Lesley gab es mal eine erste Zusammenarbeit – und auch damals war sie schon eine tolle Schauspielerin. Davon abgesehen aber kann ich nicht leugnen, daß bei inzwischen neun gemeinsamen Projekten unsere Zusammenarbeit jedes Mal noch ein wenig reichhaltiger und facettenreicher geworden ist. Meine Schauspieler und ich erarbeiten jedes Mal gemeinsam die Charaktere und je vertrauter wir uns sind, desto leichter fällt es vielleicht, sich immer noch ein Stückchen weiter auf unbekanntes Terrain zu wagen. Um es also kurz zu machen: Ja, mein Verhältnis zu den Darstellern ist immer auch ein freundschaftliches und persönliches, aus dem sich dann auch ihre Figur speist. Deswegen könnte ich nie mit einem Schauspieler arbeiten, den ich nicht leiden kann.

Damit räumen Sie dem Ensemble vermutlich mehr Macht über Ihren kreativen Schaffensprozess ein als die meisten anderen Regisseure…

Gut möglich. Aber meine Arbeiten entstehen nun einmal bekanntlich aus diesem gemeinsamen, sich oft auf Improvisation verlassenden Prozeß mit den Schauspielern. Ich begebe mich zusammen mit ihnen auf eine kreative Reise, die durchaus gefährlich ist. Denn außer dem gemeinsam Erarbeiteten gibt es nichts, auf das wir zurückfallen könnten, kein Drehbuch, nichts. Deswegen sind gegenseitiges Verständnis sowie Vertrauen so unerläßlich und bin ich bei der Suche nach der geeigneten Besetzung so unglaublich vorsichtig und gründlich. Egozentrische Einzelgänger wären bei dieser Herangehensweise ein Desaster.

Ihre Schauspieler ohne vorheriges Treffen zu engagieren, so wie Woody Allen es oft macht, käme also für Sie nicht in Frage?

Das ist für mich unvorstellbar. Geradezu lächerlich! Aber ich will nicht kommentieren, was Woody Allen macht, denn seine Filme – zumindest die heutigen – könnten kaum weiter von meinen entfernt sein. Wobei ich gerne zu Protokoll gebe, daß ich Radio Days für einen der besten Filme aller Zeiten halte.

Aber wie läuft es bei Ihnen ab, wenn Sie einen Darsteller zum ersten Mal treffen?

Ich setze mich mit ihnen zusammen und spreche einfach ausführlich mit ihnen. Oder besser gesagt: Ich lasse ihn oder sie zunächst einmal von sich erzählen. Wenn ich merke, daß es da eine gemeinsame Basis gibt, arrangiere ich ein zweites Treffen und wir machen uns an die Arbeit. Das ist jedes Mal eine sehr intensive, ernsthafte Erfahrung, alles andere als locker. Über die Details verrate ich Ihnen da allerdings nichts.

Besteht denn in der regelmäßigen Zusammenarbeit mit denselben Schauspielern die Gefahr der Wiederholung?

Nein, die Frage stellt sich gar nicht, denn wir legen alle größten Wert darauf, jedes Mal etwas Neues zu schaffen. Deswegen würde es mich auch nicht reizen, irgendwelche Figuren aus früheren Filmen für eine Fortsetzung oder ähnliches noch einmal aufzugreifen. Jede dieser Personen lebt einzig und ausschließlich in der Welt dieses einen speziellen Films. Außerdem ist mir für so etwas das Leben zu kurz. Es gibt so viel Neues, das ich noch entdecken will, also warum sollte ich mich mit Vergangenem beschäftigen?

Welchen neuen Herausforderungen wollen Sie sich denn noch stellen?

Die Frage ist zu pauschal, als daß ich sie beantworten könnte. Aber ich kann Ihnen auf jeden Fall verraten, daß mein nächster Film eine sehr viel größere und aufwendigere Produktion wird als der jetzige. Das wird nämlich eine Geschichte über den Maler J.M.W. Turner.

Another Year orientiert sich an den vier Jahreszeiten. Wie früh haben Sie sich für diese Struktur entschieden?

Relativ früh, denn ich suchte nach einem Weg, all die verschiedenen Elemente und Handlungsstränge unter einen Hut zu bringen. Mir gefiel die Idee des Zyklischen, nicht zuletzt weil es hier um kleine Veränderungen und Entwicklungen statt um drastische Einschnitte geht. Auch im Nachhinein bin ich noch überzeugt davon, daß dieser Kunstgriff ausgesprochen gut funktioniert, auch dank der hervorragenden Arbeit meines Kameramannes Dick Pope. Er drehte jede Jahreszeit auf einem anderen Filmmaterial und damit in einer vollkommen anderen Stimmung.

Die Struktur hat auch etwas sehr Optimistisches. Dabei hatte mancher Ihnen nach früheren Filmen gerne unterstellt, Sie hätten eine nihilistische, ziemlich pessimistische Sichtweise der Welt…

Was aber einfach nicht stimmt. Ich bin immer schon der Ansicht, daß ich einen sehr wahrhaftigen und sympathischen Blick auf die Welt und meine Figuren habe. Und tatsächlich kommt das gerade in Another Year zum Tragen. Wobei ich nun einmal nie etwas beschönige. Das Leben ist hart und zu vielen Menschen sehr ungerecht.

Sie lassen schon lange angehende Filmemacher an Ihrem Wissen teilhaben, sind sehr engagiert in der Lehre. Empfinden Sie das als eine Art Verpflichtung?

In gewisser Hinsicht auf jeden Fall, zumindest an der London Film School. Dort habe ich selbst studiert, bin ihr immer verbunden geblieben und mittlerweile dort Chairman of the Govenors. Mir geht es dabei nicht darum, den Studenten eine Art des Filmemachens beizubringen, die ich für richtig oder besonders gelungen halte. Vielmehr ist es allgemein mein Anliegen, ihnen den Weg zum Film beziehungsweise dem Kino insgesamt eine Zukunft zu ermöglichen.

Gemeinhin wirken Sie wie ein Regisseur, der sich nicht viel um den Business-Aspekt des Filmemachens, den Glamour und den Ruhm schert. Interessiert es Sie dann überhaupt, ob Ihre Arbeiten in Cannes Premiere feiern oder für Oscars nominiert werden?

Sie liegen falsch mit der Vermutung, daß mich das nicht interessiert. Ich bin nun einmal im Showgeschäft tätig, daran läßt sich nicht rütteln. Ich denke, nein: Ich lebe und liebe Film und alles, was dazu gehört! Nicht jede Facette dieser Branche macht mir Spaß, aber ein Festival wie das in Cannes liebe ich natürlich, denn da steht das Kino uneingeschränkt im Rampenlicht, man feiert die Arbeit der Filmemacher. Als Regisseur muß einem immer daran gelegen sein, seinem Werk die größtmögliche Öffentlichkeit zu bescheren. Ansonsten könnte ich mich auch als Mönch ins Gebirge zurückziehen und Nabelschau betreiben. 2011-07-13 17:07

Abdruck

© 2012, Schnitt Online

Sitemap