Geschichtsstunde
Von Marieke Julia Steinhoff
Die ersten Bilder gehören der Natur. Ein fliegender Vogel, ein Baum in der Mitte eines Feldes, eine Blumenwiese – Bilder eines unschuldigen Ortes, der zeitlos wirkt. Doch nach wenigen Sekunden wandelt sich diese Unberührtheit, und erste Zeichen einer geschichtlichen Verortung tauchen in Form eines Grenzpfostens auf. Die langsame Denaturierung einer weiten Landschaftsaufnahme läßt weitere solcher Zeichen erkennen und führt den Zuschauer geradewegs in die Vergangenheit, an den 1.400 Kilometer langen Grenzzaun, der die deutsch-deutsche Grenze zwischen 1961 und 1990 umfaßte. Nach Einblenden des Filmtitels wird eine weitere Klammer geöffnet: Es ist Nacht, ein junger Grenzsoldat sieht sich mit einem Flüchtling konfrontiert, er lädt das Gewehr, zielt, das Bild gefriert.
Man könnte nun meinen, daß in dieser kurzen und dramatischen Szene die Kernthematik des TV-Spielfilms An die Grenze umrissen wird – der junge Grenzsoldat, hin- und hergerissen zwischen der Verbundenheit zu seiner Armee und der humanen Regung, niemanden umzubringen. Aber bevor es am Ende des Films zu einer Auflösung dieser Szene kommt, vergeht viel Zeit, und in diesem Zwischenraum lernen wir den Grenzsoldaten Alexander als einen relativ unpolitischen und romantischen jungen Kerl kennen, der aus Trotzhaltung gegenüber seinem bevormundenden Vater bei der Grenzwache landet und sich dort auch hauptsächlich für die hübsche Bäuerin Christine interessiert. An die Grenze ist mehr ein poetisches Coming-of-Age-Drama, in welchem die Zeit bei der Grenzwache als Initiationsritus zur Persönlichkeitsentwicklung dient, und weniger ein politisches Lehrstück. »Hier entdeckst du, wer du wirklich bist«, wird Alexander gleich zu Beginn seiner Zeit als Grenzsoldat gesagt, und die Suche nach dem Selbst wird zum roten Faden des Films.
Daß man trotzdem das Gefühl hat, einen Teil deutscher Geschichte mitzuerleben, liegt zum großen Teil an den genauen und einfühlsamen Beobachtungen des Alltags in der Kaserne. Ohne zu sehr in die beliebte DDR-Klamauk-Falle zu tapsen oder Betroffenheit raushängen zu lassen, wird sowohl die Absurdität dieses Alltags als auch seine Brutalität deutlich. Dabei verzichtet der Film auch auf eindimensionale Figurenzeichnung und bemüht sich, die Grenzsoldaten und ihre Vorgesetzten aus mehreren Blickwinkeln zu beleuchten: So sind diese niemals nur Karikaturen, die kopflos den Befehlen ihrer Vorgesetzten folgen, oder rebellische Helden, die sich mutig gegen das Regime auflehnen, sondern bewegen sich irgendwo zwischen diesen Polen.
Für das politische Bewußtsein sorgt hauptsächlich die Figur der Christine, welche die Fragwürdigkeit sozialistischer Freiheitsfloskeln auf den Punkt bringt: »Wenn man keine Wahl hat, woher weiß man dann, ob man auf der richtigen Seite steht?« Ansonsten verweigert der Film aber allzu deutliche politische Statements und läßt so am Ende auch unerklärt, warum Alexander, als er dann vor der Wahl steht, die Seite mit seiner Liebsten zu wechseln und in den Westen zu flüchten, im Osten bei der Grenzwache bleibt. Anstelle einer eindeutigen Positionierung endet der Film, wie er beginnt. Die Schwarzweiß-Aufnahme des Grenzzauns renaturiert sich, und in Farbe erscheint wieder das Bild einer unberührten Natur, die nun aber weniger zeitlos denn aufgeladen mit Geschichte erscheint.
1970-01-01 01:00