Hinter Gittern
Von Uwe Mies
Der Tod des Vaters bringt zwei höchst verschieden geartete Stiefbrüder wieder zusammen. Gemeinsam wollen sie ihre Vergangenheit erforschen und stoßen dabei auf ein unerquickliches Familiengeheimnis. Krankhaftes Erbgut, inzestuöse Verstrickungen, religiöse Zwangsvorstellungen, eine Fehlgeburt – die erste Filmarbeit des renommierten franko-kanadischen Theaterregisseurs Robert Lepage lädt sich ein beträchtliches Schuld- und Sühne-Register auf, das in einem Beichtgeheimnis wohl versiegelt der Enthüllung harrt und die labileren Charaktere zwischendurch in den Selbstmord treibt.
Angesiedelt auf zwei Handlungsebenen, die vierzig Jahre auseinanderliegen, entspinnt sich ein kunstvoll gezirkeltes Kino-Puzzle, das die Parallelität der Ereignisse in raffinierten Kamerafahrten und Schnittmontagen verknüpft. Bisweilen hat Lepage seinem Spiel- und Experimentiertrieb allzu lange Leine gelassen, wenn er das visuelle Leitmotiv des Gittermusters aus dem Beichtstuhl bedeutungsschwanger an Orten sucht, wo man es am allerwenigsten vermuten würde. So gelingen ihm ein ums andere Mal bestechende Bildeindrücke, deren Faszination sich jedoch jenseits der geschliffenen Oberfläche in formalem Selbstzweck erschöpft, wie etwa die Fahrt über die vergitterten Dächer der Kabinen in einem Sauna-Club für homosexuelle Kundschaft. Allerdings impft das Ringen um ein optisches Stilprinzip dem Film eine atmosphärische Dichte ein, die ihn auch dann wie aus einem Guß erscheinen läßt, wenn die erzählerischen Bezüge zwischen familiärer Tragik und den Dreharbeiten Alfred Hitchcocks zu seinem I confess eher gezwungen als zwingend ineinandergreifen.
Inmitten dieses autobiografisch gefärbten Kaleidoskop läßt sich Lepage den fragilen Lothaire Bluteau (Jesus von Montreal) als zerrupftes und eher leidenschaftloses »Alter Ego« durch den Nebel zwischen den Mosaiksteinchen taumeln und schafft so eine ideale Projektionsfläche für den Zuschauer, ohne sich in sentimentaler Melodramatik anbiedern zu müssen.
Alle Zusammenhänge auf den ersten Blick erfassen zu wollen ist bei diesem Film ein hochgegriffenes Unterfangen. Wer einen zweiten Blick auf die intelligenten, leicht verschrobenen Kinokosmen von Regisseuren wie Atom Egoyan und Denys Arcand geworfen hat, der wird sich hier unweigerlich wohl fühlen. Alle anderen haben zumindest die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit einem weiteren originellen Beitrag aus dem vitalen kreativen Potential des Filmlandes Kanada.
1970-01-01 01:00