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Alphaville

Alphaville, une étrange aventure de Lemmy Caution. F/I 1965. R,B: Jean-Luc Godard. K: Raoul Coutard. S: Agnès Guillemot. M: Paul Misraki. P: Athos Films, Chaumiane. D: Eddie Constantine, Anna Karina, Akim Tamiroff, Howard Vernon, Jean-Louis Comolli, Jean-André Fieschi, Michel Delahaye, László Szabó, Christa Lang, Jean-Pierre Léaud u.a.
93 Min.

Die Melodie des Schlachtrufs

Von Alexander Scholz Lemmy Caution ist eigentlich gar kein Geheimagent. Völlig offensichtlich richtet der Mann im Trenchcoat seinen Fotoapparat auf die Welt, die sich ihm in Alphaville zeigt. Caution ist von einem fremden Planeten in die Stadt gereist, deren zweifelhafte Vorzüge bereits dem in strenger Schrift geschriebenen Ortsschild zu entnehmen sind: »Silence, Logique, Sécurité, Prudence«. Die Einflugschneise zu dieser fremden Welt, die der Spion in seinem interplanetarischen Ford Galaxy beschreitet, ist der nächtliche Boulevard Periferique – der stets überfüllte Autobahnring um die Innenstadt von Paris. Was Caution also in diesem doch allzu vertrauten Utopia abfotographiert, ist eigentlich nur die französische Hauptstadt in den Sechziger Jahren – von Jean-Luc Godard zum beängstigend vertrauten Zunkunftsbild erhoben.

In seinem Alphaville sind Poesie und Kunst verboten. Daß Caution trotzdem ungehindert seine Bilder knipsen darf, liegt an einem logischen Mißverständnis, das er sich schnell zu Nutze macht. Der Saboteur unterläuft die Herrschaft der Kohärenz, indem er seine Kamera benutzt – eine Taktik, die er sich anscheinend vom Regisseur des Films abgeguckt hat. Funktionieren kann das im Falle des Protagonisten nur, weil die vom mächtigen Computer Alpha 60 kontrollierten Menschen nicht auf die Idee kommen, daß Cautions Apparat Kunst produzieren könnte. Für sie ist eine Kamera einzig ein nützliches Instrument zur sachlichen Dokumentation. Der Agent kommt demnach treffender Weise als Reporter getarnt nach Alphaville, um dort durch seine subversiven Aktionen, die vorherrschende Ordnung zu erschüttern. In dieser ist das schlagende Argument gegen die Kunst die Unvorhersehbarkeit ihrer Textualität. Die Poesie ist im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbar und damit nur hinderlich im System der Zahlen. Deren Verlässlichkeit ist durch die Herrschaft von Alpha 60 zum Maßstab für menschliches Verhalten erhoben worden – Emotionen exklusive. Das Verbot der Künste wird in einer Einstellung besonders stimmig visualisiert, in der ein Kinosaal nur noch als Exekutionskulisse dient. Generell ist auffällig, wie in einer Stadt, die für sich in Anspruch nimmt, jeder Kunsthaftigkeit abgeschworen zu haben, die Demonstration von Macht ästhetisch aufgeladen wird. Da stechen zarte Sychronschwimmerinnen Deserteure ab, während Mikrophone in quälend sachlichen Verhören bedrückende Choreographien um den Kopf des Befragten tanzen.

Neben der Kunst fehlt in Alphaville natürlich auch eine Ihrer Voraussetzungen – die Liebe. Nicht einmal das Wort ist bekannt. Nun darf man sich Lemmy Caution aber nicht als außerirdischen Eindringling vorstellen, der den Frauen von Alphaville die Liebe bringt. Die wandelnde Film noir-Parodie fragt vielmehr sachlich nach, ob es das Wort »flirten« nun wirklich nicht gibt, als der bezaubernden Natacha Von Braun explizite Avancen zu machen. Daß er manchmal selbst erzählend, immer aber antreibend in diesem Kunstwerk wirkt, verleiht dem fleischgesichtigen Agenten offenbar genug Anziehungskraft, um amouröse Gefühle zu wecken. Dabei überschreitet Godard die Grenze zwischen der filmischen Handlung und deren Reflektionsebene so selbstverständlich, daß dieser Schritt nicht mal mehr als Verfremdung wahrgenommen wird. Diese tritt viel eher in den Vordergrund, wenn die Aufnahmen des futuristisch neonbeleuchteten Alphavilles durch hektisch geschnittene Leuchtanzeigen und schwer erträgliche Tonmontagen unterbrochen werden. Godard versteht es dabei, dem Zuschauer ständig vor den Kopf zu stoßen, in dem gerade noch die Erkenntnisebenen sortiert werden sollten. Der so Herausgeforderte wird damit zum Komplizen im Kampf gegen Normativität und Gleichförmigkeit, ohne daß zum Zwecke eines ideologischen Ernstes seine Unterhaltung vernachlässigt würde. 2010-02-06 20:50

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