Unter der Oberfläche
Von Frederik König
Ich erinnere mich noch ganz genau, wie ich Der weiße Hai zum ersten Mal sah: Im Alter von zehn Jahren saß ich abends im Hotelzimmer unseres österreichischen Sommerferiendomizils am Wörthersee und saugte in meiner Bildersucht jeden einzelnen Frame von Spielbergs einzigartigem Psycho-Horrorfilm auf. Am nächsten Morgen machte ich mich nach dem Frühstück auf zum Strand, um gemeinsam mit meinen Brüdern die Sommerhitze durch ein kühles Bad im See erträglicher zu gestalten. Spielbergs Hai hatte keine merklichen Nachwirkungen hinterlassen, bis ich am Steg stand und auf die glatte Oberfläche des Wörthersees starrte. Was gestern noch zum Reinspringen und Rumtollen einlud, schien jetzt ein Becken angefüllt mit den blutrünstigsten Kreaturen. Der friedvolle See erzeugte ein Grauen, das es mir schier unmöglich machte, auch nur einen Zeh in das Wasser zu tauchen. Spielberg hatte bei mir erreicht, was auch unzählige Küstenstädte in Florida und anderen amerikanischen Tourismusgebieten am Meer beim Erscheinen von Jaws 1975 befürchtet hatten: Der weiße Hai war von der Flimmerkiste in meine Gedanken geschwommen und erzeugte schwere Wellen von Paranoia, die mich von jeglichem Gewässer – egal, ob See, Meer, Fluß, Salz- oder Süßwasser – fernhielt. Selbst der Anblick der gefüllten Badewanne machte mir eine Gänsehaut, immer Ausschau haltend nach einer grauen Rückenflosse, die zwischen meinen Beinen aus dem Schaumbad auftaucht, um mich heimtückisch zu attackieren und in die Tiefe zu ziehen.
Spielbergs Meisterwerk entfaltet seinen Horror zunächst nur in den Köpfen der Zuschauer. Die ersten zwei Drittel des Films bekommt man von dem weißen Riesenhai, der das kleine Küstenstädtchen Amity heimsucht, nichts zu sehen. Nur die zerfetzten Reste seiner Opfer sind ein deutliches Indiz dafür, daß das arme Tier ziemlich ausgehungert ist und für den wasserscheuen Sheriff Martin Brody zu einem echten Problem werden könnte. Aus diesem Grund begibt er sich im letzten Drittel mit einer tollkühnen Gruppe auf eine kleine Seefahrt, um wie einst Kapitän Ahab dem weißen Riesen hinterherzujagen – bis sie feststellen müssen, daß man zum Erlegen dieses Tiers wohl ein größeres Schiff brauchen wird. Das späte Erscheinen des Hais im Film rührt angeblich daher, daß Spielbergs Modellhai nicht so funktionierte, wie er es wollte. So wurde aus der Not eine Tugend und der Auftritt des Hais umso spektakulärer, wenn er auf einmal im Rücken von Sheriff Brody aus dem Meer auftaucht. Während in den ersten zwei Dritteln des Films der Hai nur in unseren Köpfen existiert, zeigt er im letzten Drittel seine volle Pracht und übersteigt in Ausmaß, Aggressivität und Horror alle Vorstellungen, die man sich vorher von ihm gemacht hat. Er zerknuspert mit Leichtigkeit das kleine Fischerboot und vernascht nach und nach seine Jäger bis es dem mutigen Sheriff doch noch gelingt, Fischpüree aus seinem tierischen Widersacher zu machen…
Spielbergs Hai ist mehr als nur eine profan mordende Killermaschine für den Massengeschmack: Er ist eine psychologische Allegorie auf die Angst des Menschen vor dem Undurchschaubaren, sei es in unserer Seele oder in fremden Elementen wie dem Weltall oder den Gewässern dieser Erde. Vier Jahre später sollte darum eine ähnliche Jagd im Weltraum stattfinden. Alien von Ridley Scott griff 1979 das Prinzip vom weißen Hai wieder auf und beschäftigte sich erneut mit den Ur-Ängsten des Menschen.
2011-05-02 12:53